10/28/2015

MORRISSEY: LIST OF THE LOST

MANIFEST | MOZZER | MONOLOG

Kann man sich unvoreingenommen einem Buch widmen, das man einerseits ganz großartig finden will, weil es schließlich Morrissey, der beste Songtexte-Schreiber aller Zeiten verfasst hat, und das andererseits die Presse vorab schon gnadenlos verriss? "List of the Lost" von Morrissey irritiert: Vorab, während des Lesens und nach dem Lesen. Vorab bekam man notgedrungen die Prügel mit, die Morrissey für sein Buch einstecken musste: langatmig, grauenvoll, frauenfeindlich, peinlich und schlecht geschrieben lauteten die Verdikte. Das erinnerte alles an die Verrisse, die hierzulande andere Sänger, die als ausgewiesene gute Texter gelten, für ihre Roman-Debüts um die Ohren gehauen bekamen: Frank Spilker oder Jochen Distelmeyer. Letzterer machte bei "Otis" seinen Job aber gar nicht schlecht, denn es darf auch Bücher ohne viel Handlung geben, die allein von der eigenen Sprache des Autors leben und hineingeflochtene Monologe enthalten. Und solch ein Fall ist auch Morrisseys Buch: Die Handlung ist tatsächlich dünn, wenn auch überraschend, denn es handelt sich eigentlich um einen Horrorplot. Im Jahr 1975 bringen vier Sportler einen hässlichen und gemeinen Dämonen um, der sie fortan diabolisch quält. Anhand dieses Gerüsts bringt Morrissey seine ewigen Themen an den Leser und er legt den Figuren Monologe über die Monarchie, die Justiz, den Vegetarismus oder Margaret Thatcher in den Mund (die im Jahr 1975 allerdings erst Vorsitzende ihrer Partei wurde). Diese Exkurse wirken natürlich sehr künstlich und machen das Lesen nicht gerade leicht. Doch "List of the Lost" ist sprachlich immer wieder wunderbar und zum Teil auch humorvoll, ironisch und gewitzt. Oft hat man den Eindruck, dass Morrissey hier eine Art "Dorian Gray"-Geschichte erzählen will, die ja auch eine Horror-Grusel-Geschichte zum Kern hat: Ein junger Mann, der einen Pakt mit dem Teufel eingeht, um immer schön zu bleiben, während sein Gemälde altert und er ein Leben lang verderbt und unmoralisch leben kann. Die Spuren dieses Lebens sind jedoch niemals sichtbar, er bleibt ewig schön und unschuldig aussehend. Bei Morrissey treffen nun vier vor Kraft, Schönheit und vermeintlich ewiger Jugend strotzende Sportler auf ein moralisch verkommenes, verbittertes und altes Männchen, das ihnen unverblümt sagt: "I can't recognise the body I have now" (S. 27). An anderer Stelle geht es um das Thema Schuld, die sich im Äußeren widerspiegelt: "Looking still young enough to be innocent" (S. 43). Der Kampf mit dem Altwerden und Sterben ist ein Subtext im Buch und spiegelt wohl auch Morrisseys eigene Angst vor dem Verfall des Körpers wieder. Am ergreifendsten ist dieses traurige Spiel im Song "Let me kiss you" zu spüren, wenn er zunächst singt: "So, close your eyes / And think of someone you physically admire" und dann kontert: "But then you open your eyes / And you see someone that you physically despise".
Sportler waren darüber hinaus immer ein Faszinosum für Morrissey, es gibt zahlreiche Songs zum Themenkomplex. In einem Interview sagt er: “I was, perhaps oddly, very athletic when I was young. I was forced onto several [football -- meaning soccer] teams and track events and so forth. And the impression was indelible. The high drama, the stakes, the exhilaration of giving all that was left of you physically. I saw it all with a poet’s eye, though.” 
Das Ergebnis all dieser Gedanken, Hoffnungen und Ängste ist "List of the Lost", eine Liste aller Dinge, die man im Lauf seines Lebens verliert und die eventuell nur durch die Kunst bewahrt werden können. Und auf den Klappentext stellt Morrissey wie sein großes Vorbild Oscar Wilde in dem Vorwort zu "Das Bildnis des Dorian Gray" ein Manifest über das Wirken der Literatur: "Beware the novelist" schreibt er da und Wilde schreibt: "Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche geht, tut es auf eigene Gefahr".



Sound zum Buch: